Herr Vollmer, die NFL in Deutschland boomt seit einigen Jahren, der Hype ist groß wie nie. Bedauern Sie es da manchmal, diese Zeit nicht mehr aktiv auf dem Platz miterleben zu können?
Es wäre ein riesiges Highlight für mich gewesen, mit den Patriots in Deutschland zu spielen. Das war damals noch nicht möglich, auch wenn die Patriots seit 2017 in Deutschland aktiv sind. Aber ich hatte in meiner Karriere auch großes Glück. Irgendwo ist das Gras immer grüner.
Der große NFL-Hype in Deutschland fing ziemlich genau zu der Zeit an, als Sie ihre Karriere beendeten. Da hätte für Sie vieles anders laufen können.
Ich versuche, den Konjunktiv nicht in meinem Vokabular zu haben. Ich weiß auch gar nicht, was ich dann selbst anders gemacht hätte. Klar hätte sich mein Bekanntheitsgrad erhöht. Aber ich habe mich immer voll auf den Sport konzentriert, war in einem damals sehr dominanten Team. Da nehme ich lieber den sportlichen Erfolg statt der öffentlichen Bekanntheit.
Werden Sie jetzt, wo Sie auch als TV-Experte tätig sind, in Deutschland häufiger erkannt als zu Ihrer aktiven Zeit?
Ja, das ist so. Als ich 2015 zum ersten Mal den Super Bowl gewonnen habe, fing es so langsam an, aber da war es noch deutlich weniger als jetzt. Mittlerweile merkt man, wie groß die Fanbase in Deutschland ist und wie oft man erkannt wird. Neulich saß ich erst in Hamburg in einem Steakhouse, da kam der Kellner zu mir und wusste genau, wie viele NFL-Spiele ich gemacht habe. Da war ich schon erstmal überrascht (lacht).
In diesem Jahr wird schon das vierte NFL-Spiel auf deutschem Boden ausgetragen, die NFL treibt ihre Internationalisierungsstrategie voran. Wie weit wird diese Entwicklung noch führen?
Wir sehen schon ein riesiges Wachstum. Wir sehen aber auch, dass einige Programme noch Zeit brauchen. Wenn wir jetzt in die Schulen gehen und einem achtjährigen Kind Flag Football beibringen, dann wird es Zeit brauchen, bis es an den Olympischen Spielen teilnimmt. Es ist ein Langzeitprojekt. Die erste Hürde liegt darin, dass jeder mal mit dem Sport in Berührung kommt und sich dann entscheiden kann: Spiele ich selber, gucke ich das jede Woche, gucke ich nur den Super Bowl? Das sind dann Fragezeichen, die wir noch nicht beantworten können. Aber um weiter zu wachsen, muss die NFL international denken. Und da ist Deutschland der wichtigste Markt. Nicht nur für die Patriots.
Saisonstart in der NFL
In den USA kam es zuletzt zu gleich zwei tragischen Fällen, in denen Teenager an den Folgen von Kollisionen beim American Football verstarben. Muss der Sport noch sicherer werden, um auch hierzulande mehr junge Menschen für sich zu begeistern?
Football ist ein physischer Sport, ein Sport, der Verletzungen mit sich tragen kann. Das ist bekannt. Man kann beim Tackle Football nicht das Tackling wegnehmen. Aber es werden jedes Jahr Regeln geändert, um den Sport sicherer zu machen. Er ist momentan so sicher wie nie - auch was die Ausrüstung betrifft. Und es gibt die kontaktlose Variante Flag Football, die die Patriots auch hier in Deutschland mit einem eigenen Flag Field vorantreiben.
2028 wird Flag Football in Los Angeles erstmals olympisch sein, auch die NFL treibt die Sportart voran. Wo liegt das Potenzial dieses Sports? Ist Flag Football mehr als eine Einstiegssportart?
Flag Football muss nicht der Einstiegssport sein, kann es aber sein. Der Sport bietet eine gute Grundausbildung für die Dinge, die man auch im Tackle Football braucht. Und ganz wichtig: Die Hürden, mit dem Sport anzufangen, sind viel geringer, weil du keine teure Ausrüstung brauchst. Flag kannst du einfach im Park spielen. Auch deshalb sehen wir die großen Wachstumsraten, nicht nur bei Kindern und Frauen.
Könnte da eine gewisse Konkurrenzsituation zum Tackle Football eintreten, was das "Selbst spielen" angeht?
Das glaube ich nicht. Wir alle haben etwas davon, wenn dieser Sport bekannter wird - egal in welcher Version. Es sollte viel eher ein Kreis sein: Mit den TV-Geldern aus dem Tackle Football kann man beispielsweise den Jugendsport im Flag Football fördern. Ich sehe das nicht als Konkurrenzkampf. Es ist ja auch positiv, wenn man die Wahl hat: Will ich Kontakt, mag ich Kontakt - oder ist das gar nichts für mich? Beide Arten des Footballs profitieren voneinander.
Die neue Saison NFL-Saison startet in der Nacht zum Freitag, die Kansas City Chiefs können als erstes Team zum dritten Mal in Folge den Super Bowl gewinnen. Wie kann man dieses Team stoppen?
Die kurze Antwort ist: Du musst Mahomes stoppen und ihre Stärken wegnehmen. Du musst versuchen, Travis Kelce aus dem Spiel zu nehmen, ihn am besten doppeln. Aber die Chiefs finden immer Mittel und Wege, sich dann eben doch nicht stoppen zu lassen. Solange Mahomes und Andy Reid dieses Team anführen, wird es für den Rest ganz, ganz schwer. Selbst als sie Tyreek Hill abgegeben haben, haben sie noch Lösungen gefunden. Und selbst wenn es - wie im letzten Super Bowl - knapp ist, ziehen sie am Ende doch durch.
Das erinnert ein bisschen an die Patriots-Dynasty der Nuller- und Zehner-Jahre. Sie waren jahrelang ein Teil dieses Erfolgsteams. Welche Bausteine braucht es, um langfristig so durchschlagenden Erfolg zu haben, obwohl das System der Liga ja eigentlich auf Ausgeglichenheit abzielt?
Man braucht zwei essenzielle Dinge. Erstens: Du musst nach dem Super Bowl direkt von Null anfangen. Menschen haben die Tendenz dazu, sich dann auszuruhen und vielleicht nicht ganz so hart zu arbeiten. Du musst aber wieder von vorne anfangen und jedes kleine Detail neu analysieren. Das ist viel Doppelarbeit, aber du kriegst ja auch neue Spieler dazu, die diese Einstellung auch an den Tag legen müssen. Das ist aber eines der schwierigsten Dinge. So etwas muss von den Coaches und den erfahrenen Spieler kommen.
Und der zweite Punkt?
Die Liga ändert sich. Wenn du der Titelverteidiger bist, tun die anderen alles dafür, dich zu schlagen. Zu meiner Zeit haben die anderen Teams ihre Roster so aufgebaut, um Brady früh und oft unter Druck zu setzen: Defensive Line, Four Man Rush, Cornerbacks. Alle Teams stellen sich auf die Stärken des Super-Bowl-Gewinners ein. Du musst dich jedes Jahr neu erfinden, um die Strategien kontern zu können, bestimmte Spielzüge einüben. Die Chiefs hatten lange Zeit Tyreek Hill, haben ihm einfach den Ball gegeben. Als er weg war, mussten sie stärker aufs Laufspiel setzen, die eigene Defense verbessern. Für diese Anpassungen ist Andy Reid prädestiniert.
Im Eröffnungsspiel in der Nacht von Donnerstag auf Freitag treffen die Chiefs direkt auf die Baltimore Ravens. Für Sie der härteste Kontrahent in der neuen Saison?
Die Ravens gehören für mich auf jeden Fall in die Diskussion um die besten Teams. Ein interessantes Team werden für mich die New York Jets. Sie haben immer noch eine absolut dominante Defense - genau das, was du brauchst gegen Mahomes. In der Theorie haben sie einen Top-Quarterback in Aaron Rodgers. Wenn er wieder so spielt wie vor seiner Verletzung, können sie ein echter Anwärter sein. Es wird hart, in der AFC East weiterzukommen, aber wenn sie es schaffen, sind sie schon ordentlich getestet worden.
Nicht zum Favoritenkreis zählt ihr Ex-Team, die New England Patriots, das in seine erste Saison ohne Trainer-Legende Bill Belichick geht. Mit seinem Nachfolger Jerod Mayo haben Sie lange zusammengespielt. Was ist das für ein Typ?
Wenn er in die Cafeteria geht und sich alleine hinsetzt, dann sitzen innerhalb von einer Minute fünf, sechs andere Menschen um ihn herum. Er hat eine Aura, die man aufsaugen möchte. Von ihm kann man lernen. Er ist ein sehr angenehmer Mensch, sehr positiv, energetisch. Er war damals schon ein Coach, kannte nicht nur unser Defense-Scheme, sondern wusste immer, was die gegnerische Offense macht. In unserer Kabine saß er immer am Eingang: Wenn du kamst, musstest du an ihm vorbei - und wenn du gehst, auch. Das war mit Absicht so geregelt: Du wolltest ihn als Mitspieler nicht enttäuschen, bist früh gekommen, weil er auch früh da war und spät gegangen, weil er auch spät gegangen ist.
Dennoch befinden sich die Patriots im Umbruch. Belichick war jahrzehntelang die prägende Figur.
In einem Jahr ein Team komplett umzubauen, wäre eine utopische Aufgabe. Es beginnt jetzt eine neue Zeitrechnung. Das ist total spannend, man spürt vor Ort richtig, dass sich was tut. Ohne aber dabei bestimmte Werte über Bord zu werfen, die die Patriots seit jeher auszeichnet: Wie man arbeitet, dass man abends nicht weggeht, dass man alles dem Sport unterordnet. Das kriegt man nicht raus. Ich mache das heute noch so und ich spiele gar nicht mehr (lacht).
Belichick hat - für viele überraschend - nach seinem Aus bei den Patriots keinen neuen Head Coaching Job in der Liga übernommen.
Er hat vorgemacht, wie man in dieser Liga Erfolg hat. Wie man sich vorbereitet, wie man den Gegner studiert, wie viel man wiegen sollte - Dinge, über die man sich früher als Spieler sonst gar keine Gedanken gemacht hätte. Es ist kein Geheimnis, dass es unheimlich hart ist, unter ihm zu spielen. Allerdings waren wir auch 20 Jahre lang das erfolgreichste Team der NFL. Die letzten drei Jahre bei den Patriots waren nicht mehr so erfolgreich. Das heißt aber nicht, dass Bill Belichick mit seiner Art nicht woanders auch erfolgreich sein könnte.
War der vollzogene Generationenwechsel auf der Trainerposition bei den Patriots der richtige Schritt?

Noch immer nah dran: Sebastian Vollmer (li.) beim Deutschland-Spiel im November 2023 mit Patriots-Besitzer Robert Kraft. IMAGO/USA TODAY Network
Die Liga ändert sich, die Mentalität ändert sich. Die neuen Coaches sind jetzt 30, 40 Jahre jünger. Vielleicht ist es dann auch keine schlechte Idee, sich auch als Franchise zu verändern, um mit der Zeit zu gehen. Und so wie die Patriots das bisher angehen, macht das großen Mut.
Zum Umbruch gehört auch ein neuer Quarterback: Drake Maye wurde im letzten Draft an dritter Stelle ausgewählt, starten wird aber zunächst Rückkehrer Jacoby Brissett. Die richtige Entscheidung?
Ich bin ein riesiger Fan davon, einen Rookie-Quarterback erstmal sitzen zu lassen - egal, wie gut er ist. Natürlich gibt es Spieler wie C.J. Stroud, die im ersten Jahr direkt durchstarten, aber es gibt genug Beispiele von Quarterbacks, die mit den Problemen auf dem Profi-Level nicht klar kommen: Manchmal ist es die Offensive Line, das Coaching, das Spielverständnis, die Geschwindigkeit, die längere Saison. Dann wird das Gesicht der Franchise von den Medien zerrissen, die Fans hassen ihn. Wenn das Selbstbewusstsein dann mal angeknackst ist, ist es richtig hart. Es ist wichtig, dass Drake Maye erstmal lernt, wie man sich vorbereitet. Er hat noch nicht alle Blitzes gesehen, noch nicht alle Coverages, musste noch nicht mit einem neuen Center spielen - Dinge, die man erleben muss, um erfolgreich zu sein. Das Risiko, ihn hinter einer O-Line zu verheizen, die noch nicht ganz so fluide ist, wäre zu groß.
Gibt es - die Patriots mal ausgeklammert - ein Team oder einen Spieler, auf den Sie sich in der neuen Saison ganz besonders freuen?
Ich finde die Houston Texans mit C.J. Stroud extrem spannend. Als wir früher gegen die Texans gespielt haben, haben wir gefühlt jedes Mal 60:0 gewonnen. Plötzlich sind sie richtig gut. Ich kann noch gar nicht richtig glauben, was ich da sehe (lacht). Stroud ist für mich schon jetzt einer der besten zehn Spieler der Liga. Wenn er verletzungsfrei bleibt, kann Houston ganz oben mitspielen.
Sie waren zu Ihrer aktiven Zeit einer der besten Offensive Tackles der NFL - eine der wichtigsten Positionen im Football, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zur kurz kommt. Wie sehen Sie die Entwicklung dieser Position seit Ihrer aktiven Zeit?
Es ist mittlerweile schwieriger geworden, in der Offensive Line zu spielen, weil man weniger in Pads trainiert. Zu meiner Zeit haben wir immer Mittwoch und Donnerstag in voller Montur trainiert, inzwischen wurde der Vertrag der Spielergewerkschaft mit der Liga geändert, um Verletzungen vorzubeugen. Dadurch wird nur noch einmal die Woche in Pads trainiert, oft gar nicht. Dieser Trainingsverlust macht es schwieriger, die Technik sauber einzuüben. Du hast zwar im Training weniger Kontakt - aber wenn es dann im Spiel zu Kontakt kommt, bist du vielleicht nicht zu 100 Prozent vorbereitet. Einen Spielzug wie den "Tush Push" der Philadelphia Eagles kannst du während einer Saison gar nicht mehr einüben. Das kannst du nur in voller Montur gegen die eigene Defensive Line trainieren.
Welche aktuellen Spieler sollte man sich genau anschauen, wenn man sich mehr mit Offensive Tackles beschäftigen will?
Links sehe ich Trent Williams von den San Francisco 49ers ganz vorne. Er ist mit 36 nicht mehr der Jüngste, aber er wird im Alter immer besser. Er spielt sehr aggressiv, führt die Technik sehr gut aus. Auf der Right-Tackle-Position ist Penei Sewell von den Detroit Lions für mich der beste Spieler. Bei einem 3rd and 2 weiß man vorher, dass die Lions den Ball über seine Seite laufen werden - und trotzdem kannst du es nicht stoppen. Ansonsten ist Lane Johnson von den Philadelphia Eagles ein echters Powerhouse, auch Tristan Wirfs von den Tampa Bay Buccaneers hat sich zuletzt als Elite-Tackle hervorgehoben.
Zum Abschluss wartet - Sie ahnen es - der Super-Bowl-Tipp. Welche zwei Mannschaften sehen wir am 9. Februar in New Orleans?
Der amtierende Super-Bowl-Gewinner ist für mich immer der Favorit. Ich will sehen, dass jemand die Chiefs schlagen kann, bevor ich gegen sie tippe. In der NFC könnten es zwar auch die Eagles schaffen, aber ich gehe mit den 49ers, also ein Rematch des letzten Super Bowls - auch wenn das vielleicht eine langweilige Antwort ist (lacht).